Gelesenes
Schreibe einen Kommentar

Selja Ahava: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm

Manche Bücher sind schwer in Worte zu fassen, obwohl sie selbst in so schöne Worte gekleidet sind. „Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“ von der finnischen Autorin Selja Ahava ist so ein Buch.

Entdeckt habe ich das Buch durch einen wunderbaren Zufall. Eine Freundin, Madita vom Blog „Das Gartenjahr“, meinte sich dunkel zu erinnern, dass ich zu eben diesem Buch eine Rezension geschrieben hätte. Das hätte ich, wäre das Buch schon damals auf meinem Radar gewesen … das aber nur so nebenbei. Irgendwie passt dieses dunkle Erinnern dann auch perfekt zu dem Buch, denn zu den zentralen Elementen dieses wundervollen wie genialen Romans gehören Erinnern und Vergessen.

Im Mittelpunkt steht Anna, eine ältere Frau, die direkt auf der ersten Seite von Gott besucht wird. Und mit ihm spricht. Tatsächlich spricht. Für mein Gefühl war dies ein etwas wundersamer Einstieg in die Geschichte, der sich jedoch auf wundersame Weise in die Gesamtkomposition einschmiegt. Anna blickt auf ihr Leben zurück, bruchstückhaft, denn sie konnte nicht alles festhalten. Anna erinnert sich an die Zeit auf ihrer Insel, mit Antti, an die Zeit nach Anttis Tod, den Neuanfang in London, mit Thomas, Kinder, die es eigentlich nicht gibt und natürlich an den Tag, an dem ein Wal durch London schwamm. Um die Dinge festzuhalten, die einfach so entschwinden wollen, sagt sie Wortlisten auf. Aus dem Nichts. Stein, Birke, Gras, Stuhl.

Anna verliert ihre Erinnerungen, sie fallen weg, einfach so. Ihr Gedächtnis bekommt stetig mehr weiße Flecken. Eine Begründung hierfür, quasi eine Diagnose, liefert das Buch nicht. Das passt jedoch perfekt ins Szenario dieses Buches. Ganz genauso wie Annas Erinnerungen Lücken aufweisen, so gibt es Lücken im Inhalt, was wiederum einen Teil der Faszination dieses Buches ausmacht. Wer ein Buch sucht, das eine Geschichte von A bis Z erzählt, ist mit „Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“ schlecht beraten. Wer allerdings geschickt gewebte Erzählstränge, starke Charaktere und gewaltige Sprachkraft mag, liegt bei diesem Debütroman von Selja Ahava goldrichtig. Und: Selja Ahava hat – für mich – auf vier Seiten (Kapitel 7) den wohl schönsten Sturm der Literaturwelt beschrieben, ein Sturm, der es geschafft hat, mich innerlich aufzuwühlen, ganz wie die tobende See. Beim Gedanken daran bekomme ich noch immer Gänsehaut.

Stefan Moster, Autor und Übersetzer, hat es geschafft, diesen Roman mit einer sprachlichen Finesse zu übersetzen, die mir schlicht den Atem raubt. Im Blog der Frankfurter Buchmesse wurde im Mai 2014 ein Interview veröffentlicht, in dem er die finnische Sprache als Form eines Hauses mit Holzverstrebungen, merkwürdigen Proportionen und vielen Nebenräumen beschreibt. Allein dieses Interview zeigt, wie grandios Stefan Moster mit Worten umgehen kann. Ein bissl zum neidisch werden und definitiv zum Hut ziehen.

Lieblingssatz:
„Er übertrumpfte den Wind, er übertrumpfte das Aufprallen der herabfallenden Äste, er brachte die ganze Insel dazu, sich tief zu ducken.“

Selja Ahava, Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm, S. 41

Eckdaten:
Selja Ahava
Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm
Übersetzt von Stefan Moster
mareverlag
2014
ISBN: 978-3-86648-182-4
20 Euro

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert